Von Simone Sondermann

Ein schwarzes Tuch und eine Kamera, mehr braucht Iwajla Klinke nicht. Damit reist sie nach Südamerika und Afrika, in abgelegene Täler Tirols, auf schottische Inseln oder in die nahe gelegene Lausitz. Dort, im deutsch- polnischen Grenzgebiet, hat sich ein alter sorbischer Brauch erhalten. Ein junges Mädchen wird kurz vor Weihnachten in eine festliche Tracht gekleidet, mit Ketten und handbestickten Bändern geschmückt. Gesicht und Hände sind verhüllt, denn keiner soll das Mädchen mehr erkennen. Es hat aufgehört, Person zu sein, und sich in einen Hybrid verwandelt, halb Braut, halb göttliches Wesen. Es verkörpert nun das Bescherkind, seine stumme Berührung bedeutet Segen, und wer es anbetet, wird beschenkt.

Diese rituelle Verwandlung fasziniert die Künstlerin. Sie porträtiert Kinder und Jugendliche, die Teil von etwas Größerem, Höherem geworden sind. Stets nimmt sie ihre Modelle reduziert vor dem schwarzen Hintergrund auf und immer am Ort des Geschehens, das ein weihnachtliches Dorf sein kann, eine katholische Prozession oder auch ein Berliner Fechtklub, wo die Jungs in ihrer ritterlich anmutenden Sportkleidung posieren. Oft wartet sie stundenlang, bis die Kinder eingekleidet sind, um sie dann kurz vor der Kamera zu haben. Sie macht kaum Vorgaben, nur lachen sollen die Porträtierten nicht. So strahlen die Gesichter und Körper einen Stolz, eine Haltung aus, die an die frühen Studiofotografien des 19. Jahrhunderts erinnert oder an die Herrscherporträts des Goldenenen Zeitalters.

Iwajla Klinke

Iwajla Klinke, “Triptyche MIniatur II” (Copyright: Galerie Voss)

Iwajla Klinke hat nach ihrem Kunstgeschichtsstudium in Berlin einige Jahre beim Fernsehen gearbeitet, Dokumentationen für Arte und 3sat gedreht, bevor sie sich komplett der künstlerischen Fotografie zuwandte. Die Jahre beim Fernsehen hätten in ihr eine tiefe Sehnsucht nach Stille erzeugt, erzählt sie, nach einem Ausdruck ohne Worte. Die Kinder, die sie aufnimmt, verstehen die Bedeutung der Rituale, in deren Zentrum sie stehen, oft nicht wortwörtlich und explizit, aber sie erfassen umso intuitiver die Heiligkeit des Augenblicks. Das Lebensalter vor der Pubertät beschäftigt Klinke, weil es für sie die Zeit vor einer Verwandlung ist, einem Vergehen, ja vor dem Tod, wenn man diesen als Übergang von einer Daseinsform zur nächsten begreifen. Würde sie die Kinder, die sie aufnimmt, nach Jahren wiedersehen, wären sie keine Kinder mehr, etwas in ihnen wäre gestorben, etwas anderes neu entstanden.

Die sorbische Tradition des Bescherkinds wird nur noch in sieben Dörfern praktiziert. In drei davon hat Iwajla Klinke schon fotografiert, sie will die Serie noch komplettieren. Die Dörfer sind vom Braunkohleabbau bedroht, vielleicht werden sie abgetragen und ihre Bewohner umgesiedelt. Auch auf dieser Ebene steht ein Übergang bevor, und man feiert etwas, dem das Vergehen innewohnt.


Weltwunst
https://www.weltkunst.de/ausstellungen/2018/07/infantes-portraets-von-iwajla-klinke