Männlichkeit auf Schwankendem Boden
Christina von Braun
»Es blüht.«
»Nein, es blutet.«
»Dann müssen es Frauen sein. Im Mittelalter nannte man die Menses der Frauen ›Blumen‹. Die Menstruation war ein Zeichen von Fruchtbarkeit.«
»Es sind aber keine Frauen. Sie wollen zwar weiblich aussehen, sich aber von ihnen absetzen. Echte Männer werden.«
»Männer menstruieren nicht. Was soll das für ein Blut sein, das sie in Blüten verwandeln?«
»Man nennt es geistige Fruchtbarkeit.«
»Geistige Fruchtbarkeit?«
»Diese Fruchtbarkeit ist nicht zyklisch wie bei den Frauen; sie bringt nicht neues Leben, sondern das ewige Leben.«
»Die blutenden Blüten des Mannes verweisen also auf eine Überwindung des Todes?«
»So ungefähr. Fast alle Kulturen kennen zwei Arten des Blutes: das minderwertige Blut der Frauen, der Sexualität und Sterblichkeit. Und das höherwertige, das Unsterblichkeit verspricht. In der christlichen Religion ist das besonders ausgeprägt: Auf der einen Seite bezeichnete man die Syphilis, die sexuell übertragen wurde, als die Krankheit des ›bösen Bluts‹. Und auf der anderen Seite gab es das ›gute Blut‹ der Märtyrer und vor allem der Passionsgeschichte, das den Gläubigen Anteil haben ließ an der Auferstehung.«
»Aber woher nehmen diese Jungen ihr theologisches Wissen?«
»Sie verfügen über kein gelehrtes Wissen. Es ist ein kulturelles Wissen und enthält einerseits Spuren des Tradierten, in dem das Frauenblut als Blume gedacht wurde: Andererseits ist es aber auch geprägt von den christlichen Lehren des ›heiligen‹ und ›heilbringenden‹ Blutes.«
»Also männlich und weiblich zugleich?«
»Nicht ganz. Das Weibliche dient nur der Transition: Es muss überwunden werden.«
»Woraus schließt du das?«
»Dies sind Rituale des Übergangs, bei denen Jungen zu Männern werden. Dass sie dafür durch eine weibliche Verkleidung gehen müssen, ist hier das Ungewöhnliche. Meistens müssen sie Mutproben bestehen, sich verletzen, um über den Schmerz zu erstarken. Hier durchlaufen sie einen Geschlechtswechsel – nur um das andere Geschlecht endgültig hinter sich zu lassen. Es ist eine ganz eigene Art der Schmerzüberwindung.«
»Warum sprichst du von geistiger Fruchtbarkeit?«
»Hinter der geistigen Fruchtbarkeit steht die Idee einer Überlegenheit der Kultur über die Natur. Die Natur ist ursprüngliche Schöpfung; sie regeneriert sich selbst. Menschen werden geboren, weil die Natur die Fortpflanzung ermöglicht. Die Kultur dagegen unterliegt der Kreativität des Menschen; sie ist Ausdruck seiner geistigen Fähigkeiten, seines Bewusstseins, seines Willens.«
»Die geistige Fruchtbarkeit scheint aber dem männlichen Geschlecht vorbehalten zu bleiben.«
»Das stimmt. Die Idee der geistigen Fruchtbarkeit basierte darauf, dass die Vaterschaft bis vor kurzem nicht nachweisbar war. Das verführte dazu, den Anteil des Mannes an der Zeugung als ›geistigen Akt‹ zu verstehen. Folglich wurde Vaterschaft nicht biologisch gedacht, sondern institutionell: Der Mann vertrat das Priestertum, das Gesetz, das Oberhaupt der Gemeinschaft. Das Konzept einer geistigen Vaterschaft findet man in allen Kulturen: Der fehlende Vaterschaftsnachweis galt ja überall. Davon leiten sich viele geläufige Ideen über die Geschlechter ab, etwa die, dass Weiblichkeit Natur und Männlichkeit Kultur repräsentiert.«
»Wie kam es, dass die Vaterschaft nachweisbar wurde?«
»Es war ein kultureller Akt, bedingt durch den Wissensdrang des Menschen. Er hatte nur völlig unerwartete Folgen. Im späten 17. Jahrhundert begann man, sich den Zeugungsvorgängen zuzuwenden, man entdeckte das Spermatozoon. Anfang des 19. Jahrhunderts beobachtete man den Eisprung, dann, unter verbesserten Mikroskopen, die Verschmelzung der beiden. Allmählich erkannte man, dass der Anteil des Vaters nicht minder biologisch war als der der Mutter. Damit begann der Niedergang des geistigen Vaters. Die Genetik im 20. Jahrhundert ermöglichte schließlich den sicheren Vaterschaftsnachweis. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit. Zugleich änderte sich unser Blick auf die Rolle der Geschlechter, und schließlich änderten sich auch die Rollen selbst. Diese Änderung vollzog sich innerhalb von zweihundert Jahren: eine ungewöhnlich kurze Zeit für eine so tiefgehende Mentalitätsveränderung.«
»Davon wissen diese Jungen aber nichts.«
»Nein, aber sie vermitteln uns eine Ahnung von den Prozessen, die die Geschichte der Männlichkeit durchlaufen hat.«
»Wurden diese Fotos eigentlich von einem Mann oder einer Frau gemacht?«
»Das ist nicht ganz klar. Die Geschlechterrollen sind austauschbar, ununterscheidbar geworden. Traditionell waren die Frauen Gegenstand der Betrachtung, das Sehen blieb dem Mann vorbehalten. Heute stehen oft auch Frauen hinter der Kamera. Aber das technische Auge wird meist mit Männlichkeit gleichgesetzt.«
»Diese Jungen präsentieren sich tatsächlich für die Kamera, so wie man es sonst von Frauen erwartete.«
»Sie versuchen, dadurch ihre Weiblichkeit zu betonen. Sie inszenieren ihre Weiblichkeit, machen sich selbst zum Gegenstand des Blicks.«
»Wie kam es, dass Frauen befugt wurden, mit eigenen Augen zu betrachten, zu beobachten, zu erkennen?«
»Der Wandel des Blicks vollzog sich mit dem Wandel der Geschlechterrollen. Plötzlich wurde Frauen nicht nur das Sehen erlaubt, es wurden ihnen auch kulturelle Schöpfungen zugetraut. Das Sehen selbst veränderte sich. Hier zum Beispiel verwandeln sich sichtbare oder imaginierte Wundmale in gemalte Wunden. Das ist ein kultureller Schöpfungsakt, wie er im Buche steht, aber er ist weder männlich noch weiblich.«
»Das heißt, der Wandel der Geschlechterrollen hat die Kultur selbst verändert?«
»Allerdings. Unser Blick auf diese Jungen mit ihren weiblichen Accessoires – vom Blut über Perlen, Schminke, Schleier, das Brautkleid bis zum kostbaren Schmuck – ist ein vollkommen anderer als der ihrer eigenen Kultur. Vermutlich sieht ihre eigene Umgebung in diesem Brauchtum Riten des Übergangs zur Männlichkeit. Wir dagegen, schon gar, wenn wir diese Bilder in einer Ausstellung betrachten, sehen darin das Dazwischen der Geschlechter, sogar den Geschlechtswechsel. Dieser wird heute, bei uns, nicht nur symbolisch vollzogen, als Verkleidung, sondern er geschieht am Körper selbst, als psychischer und physischer Eingriff. Meistens wird er endgültig – aber es ist die Frage, ob diese Unveränderbarkeit wirklich das Ziel dieser Entwicklung sein muss.«
»Es stimmt, viele von uns suchen im Männlichen nicht mehr das Heroische, den Überwinder der Angst vor der Sterblichkeit.«
»Deshalb übersehen wir auch, dass die Riten des Geschlechtswechsels auf diesen Fotos eigentlich den Übergang zur heroischen Männlichkeit meinen. Wir übersehen, dass hier die Spuren gelegt werden für eine Spaltung in ein Entweder-Oder von Männlichkeit und Weiblichkeit. Erwachsen werden heißt für sie, sich zur Gegensätzlichkeit zu entscheiden. In unserer Gesellschaft dagegen heißt Erwachsenwerden, sich damit auseinanderzusetzen, dass diese Polarität nicht aufgeht. Eine Ambiguitätstoleranz zu entwickeln – eine Toleranz gegenüber Grenzüberschreitungen, die sich auf Geschlecht beziehen können, aber auch auf nationale oder kulturelle Werte.«
»Du meinst, das, was diese Jungen praktizieren, ist das Ende der Ambiguität, die ihnen als Kindern noch erlaubt war. Und bei uns ist es genau umgekehrt: Wir werden erwachsen, indem wir lernen, dass es kein Entweder-Oder gibt.«
»Na ja, bei uns gibt es viele, die es vorziehen würden, die Pubertät als Übergang zum unüberwindbaren Gegensatz zu denken. Daneben gibt es aber auch die anderen.«
»Androgynie hat es eigentlich immer gegeben.«
»Stimmt, aber sie war weit überwiegend eine männliche Angelegenheit. Die Mythologie kennt viele androgynen Jungmänner: Adonis, Narziss, Hyakinthos, Sohn eines spartanischen Königs und Geliebter des Gottes Apollon; Ampelos, der Geliebte des Dionysos. Aber kaum androgyne Jungfrauen. Die Jungfrau an sich galt zwar als ungeschlechtlich, aber gerade die Bedeutung, die ihrer Jungfräulichkeit beigemessen wurde, kennzeichnet sie als weiblich. Später, im säkularen Zeitalter, gibt es auch androgyne Frauenfiguren. Etwa Mignon in Goethes Bildungsroman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹. Aber erstens haben diese Figuren oft nur die Funktion, Männlichkeit und Weiblichkeit genauer gegeneinander abzugrenzen; und zweitens sind diese weiblich-androgynen Gestalten fast immer todgeweiht. Die androgynen Jungmänner dagegen haben meist göttlichen Status, sind also unsterblich. Das heißt, die männliche Androgynie war ein Symptom männlicher Vollständigkeit. Wer zwei Geschlechter in sich trägt, kann sich selbständig fortpflanzen, ist also unsterblich. Das galt nicht für die weibliche Androgynie. Die Unsterblichkeit ist traditionell ein männliches Privileg.«
»In diesem Fall verleiht auch die Fotografie den Körpern dieser Jungmänner den Anschein von Ewigkeit. Indem das Foto ihre Zeit zum Stillstand bringt, erhält auch ihre Weiblichkeit bleibenden Status. Auf diesen Fotos werden die Jungen nie älter werden, und sie bleiben im Zustand des Dazwischens. Sie verharren für immer im Übergang.«
»Das ist ein Paradox, mit dem sich diese Jungen nun zeitlebens auseinandersetzen müssen: Einerseits praktizierten sie einen Ritus der Transition, der sie endgültig in der Männlichkeit verankern sollte, andererseits erinnert das Foto für immer daran, dass sie nicht immer schon Männer waren. Ihre Männlichkeit bewegt sich also auf schwankendem Boden.«